Das Jesidentum (Yezidentum) - Eine der ältesten Religionen der Welt
Das Jesidentum, auch Yezidentum genannt, ist eine der ältesten monotheistischen Religionen der Welt. Mit Wurzeln, die über 4.000 Jahre zurückreichen, wird diese Religion hauptsächlich von den Jesiden praktiziert, einem kurdischen Volk, das ursprünglich aus der Region um den Berg Sindschar im Nordirak stammt.
Geschichte und Ursprünge
Die jesidische Religion entstand in der mesopotamischen Region und vereint Elemente verschiedener alter Religionen, darunter Zoroastrismus, Christentum, Islam und vorislamische kurdische Traditionen. Die Religion wurde im 11. Jahrhundert von Scheich Adi ibn Musafir systematisiert, der heute als wichtigster Reformator gilt.
Das spirituelle Zentrum der Jesiden liegt in Lalisch, einem heiligen Tal im Nordirak, wo sich das Grab von Scheich Adi befindet.
Grundlagen des Glaubens
Monotheismus: Jesiden glauben an einen allmächtigen Gott, der das Universum erschaffen hat und über sieben Engel regiert.
Melek Taus (Der Pfauenengel): Der wichtigste der sieben Engel, oft als Pfau dargestellt. Er ist Gottes Stellvertreter auf Erden und spielt eine zentrale Rolle im jesidischen Glauben.
Die sieben Engel: Gott herrscht durch sieben Engel, die verschiedene Aspekte des Lebens und der Natur überwachen.
Reinkarnation: Jesiden glauben an die Wiedergeburt der Seele, wobei gute Taten zu einer besseren Wiedergeburt führen.
Heilige Bücher: Die wichtigsten religiösen Texte sind das "Buch der Offenbarung" (Kitêba Cilwe) und das "Schwarze Buch" (Mishefa Reş).
Die jesidische Gesellschaft ist traditionell in drei Kasten unterteilt:
Scheichs: Die religiöse Führungsschicht, Nachkommen der ersten Anhänger von Scheich Adi.
Pirs: Religiöse Lehrer und Vermittler zwischen den Scheichs und den Laien.
Murids: Die Laiengemeinschaft, die den größten Teil der jesidischen Bevölkerung ausmacht.
Heirat zwischen den Kasten ist traditionell nicht erlaubt, was zur Bewahrung der religiösen Reinheit dient.
Religiöse Praktiken und Rituale
Gebete und Gottesdienst
Jesiden beten mehrmals täglich in Richtung der Sonne, da sie das Licht als Symbol Gottes verehren. Die Gebete werden in kurdischer Sprache (Kurmanji) gesprochen.
Pilgerfahrt nach Lalisch
Jeder Jeside sollte mindestens einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Lalisch unternehmen, dem heiligsten Ort ihrer Religion.
Taufe
Jesidische Kinder werden mit Wasser aus der heiligen Quelle Kaniya Sipî in Lalisch getauft.
Fasten
Das wichtigste Fasten findet im Dezember statt und dauert drei Wochen. Es erinnert an eine Zeit, in der Scheich Adi in spiritueller Zurückgezogenheit lebte.
Wichtige Feste und Feiertage
Çarşema Sor (Roter Mittwoch): Das jesidische Neujahrsfest im April, das den Beginn des Frühlings und die Erneuerung der Natur feiert.
Festa Êzî: Ein wichtiges religiöses Fest zu Ehren von Scheich Adi.
Cejna Cemaiya: Das Versammlungsfest, bei dem die Gemeinde zusammenkommt.
Das Fest der Versammlung in Lalisch: Ein jährliches Fest im Herbst, bei dem Tausende von Pilger nach Lalisch kommen.
Symbole und heilige Gegenstände
Der Pfau: Das wichtigste Symbol der Jesiden, repräsentiert Melek Taus.
Die Sonne: Symbol für das göttliche Licht und die Wahrheit.
Sanjaks: Bronzene Pfauenfiguren, die als heilige Reliquien in jesidischen Gemeinden aufbewahrt werden.
Das heilige Feuer: Feuer gilt als heilig und wird nie gelöscht.
Verfolgung und Völkermord
Die jesidische Gemeinschaft hat eine lange Geschichte der Verfolgung erlebt. Der schrecklichste Höhepunkt war der Völkermord durch den sogenannten Islamischen Staat (ISIS) ab 2014:
- Tausende Jesiden wurden ermordet
- Frauen und Kinder wurden versklavt
- Heilige Stätten wurden zerstört
- Hunderttausende mussten fliehen
Dieser Völkermord wurde international anerkannt und hat das Bewusstsein für die jesidische Gemeinschaft geschärft.#Heute leben Jesiden weltweit verstreut:
- Deutschland: Die größte jesidische Diaspora-Gemeinde (ca. 200.000)
- Irak: Noch immer das spirituelle Zentrum, aber stark dezimiert
- Armenien, Georgien, Türkei: Kleinere historische Gemeinden
- Europa und Nordamerika: Wachsende Gemeinden von Flüchtlingen
Herausforderungen der Moderne
Bewahrung der Tradition: In der Diaspora kämpfen Jesiden darum, ihre Traditionen zu bewahren.
Bildung: Viele jesidische Kinder erhalten heute erstmals Zugang zu höherer Bildung.
Integration: Jesidische Gemeinden arbeiten daran, ihre Identität zu bewahren und sich gleichzeitig in neue Gesellschaften zu integrieren.
Wiederaufbau: Bemühungen um die Rückkehr in die Heimatregionen und den Wiederaufbau zerstörter Gemeinden.
Jesidische Kultur und Traditionen
Musik und Tanz: Religiöse Hymnen (Qewls) und traditionelle Tänze sind wichtiger Teil der Kultur.
Handwerk: Traditionelle Fertigkeiten wie Weben und Metallarbeit werden gepflegt.
Sprache: Die meisten Jesiden sprechen Kurmanji-Kurdisch, wobei religiöse Texte auch Elemente anderer alter Sprachen enthalten.
Gastfreundschaft: Wie in vielen nahöstlichen Kulturen spielt Gastfreundschaft eine zentrale Rolle.
Die Rolle der Frauen
Frauen spielen eine wichtige Rolle in der jesidischen Gesellschaft:
- Sie bewahren und übertragen kulturelle Traditionen
- Priesterinnen (Feqras) haben religiöse Funktionen
- In der Diaspora kämpfen jesidische Frauen für Gleichberechtigung und Bildung
Zukunft des Jesidentums
Trotz der enormen Herausforderungen zeigt die jesidische Gemeinschaft bemerkenswerte Widerstandskraft:
- Aufbau neuer Gemeindezentren in der Diaspora
- Bildungsinitiativen für die Jugend
- Dokumentation und Bewahrung religiöser Traditionen
- Internationale Anerkennung und Schutz
Fazit
Das Jesidentum ist eine faszinierende und alte Religion, die trotz jahrhundertelanger Verfolgung überlebt hat. Die jesidische Gemeinschaft trägt ein reiches kulturelles und spirituelles Erbe, das es zu schützen und zu bewahren gilt.
Ihre Geschichte lehrt uns über Widerstandsfähigkeit, Glauben und die Bedeutung religiöser Vielfalt. In einer Welt, die oft von religiösen Konflikten geprägt ist, stehen die Jesiden für Toleranz und friedliche Koexistenz.
Die Unterstützung und das Verständnis für die jesidische Gemeinschaft sind heute wichtiger denn je, um sicherzustellen, dass diese einzigartige Religion und Kultur auch für zukünftige Generationen erhalten bleibt.